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Anthrovita, Fachbuchhandlung
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4.4.2025 Cern, Drogen, Reinkarnation

Das Cern, das europäische Kernforschungszentrum in Genf, betreibt zwecks Forschung einen Teilchenbeschleuniger. In diesem werden mit sehr grossem und stromhungrigem Aufwand subatomare Teilchen mit sehr hoher Geschwindigkeit auf andere subatomare Teilchen geschleudert, in der Hoffnung, dass durch die entstehende Zertrümmerung etwas bisher nicht Erkanntes zum Vorschein komme; es wird etwas gesucht, von dem keine Vorstellung vorhanden ist. Das Ziel ist, „die fundamentalen Gesetze zu entdecken, die das Verhalten der Natur lenken. Es geht um ein Verstehen der elementaren Prinzipien, die über das Universum bestimmen; darum, wie – und insbesondere warum – die Natur so funktioniert, wie wir sie beobachten.“ (Gian Francesco Giudice: Odyssee im Zeptoraum. Springer 2012, Seite viii). Oder eben, wie Goethe sagte: was die Welt im Innersten zusammenhält.
Das Cern wurde 1954 begründet und erhielt seither immer leistungsfähigere technische Einrichtungen. Die bisherige grösste Einrichtung ist der Teilchenbeschleuniger, ein Ringtunnel aus Beton, 100 Meter unter der Erdoberfläche, innen ausgestattet mit einer fast unendlichen Reihe von Elektromagneten, welche die zu untersuchenden Teilchen in Bewegung versetzen und auf eine sehr hohe Geschwindigkeit beschleunigen. Der Ringtunnel hat eine Länge von 27 Kilometer. Das dabei verbaute Material von 37‘000 Tonnen muss auf 270°C unter Null gekühlt werden. Der Stromverbrauch ist so hoch, dass die Anlage im Winter nicht betrieben werden darf.
Weil nun aber in diesen verflossenen siebzig Jahren nichts von dem gefunden wurde, was gesucht wurde, will das Cern in absehbarer Zeit einen noch grösseren Teilchenbeschleuniger bauen, d. h. dieselbe unfruchtbare Forschungsweise intensivieren. Der in Aussicht genommene neue Teilchenbeschleuniger soll eine Länge von 100 Kilometer, also einen Durchmesser von gut 30 Kilometer bekommen. Die erste Kostenschätzung beläuft sich auf 21 Milliarden Franken.
Für viele Menschen war und ist klar, dass mit dieser Forschungsart nie wesentliche Erkenntnisse zu Tage gefördert werden. Die letztlich dahintersteckende grundlegende, zutiefst philosophische Frage ist, ob Materie aus Geist entstand oder Geist aus Materie. Physiker, namentlich die hier tätigen theoretischen Teilchenphysiker, glauben, Geist sei aus Materie entstanden, d. h. Materie habe schon immer existiert (oder sei durch einen Urknall aus Nichts entstanden) und deshalb sei die Antwort zur Frage aller Fragen in der Materie verborgen.
Diese Frage ist eine allerhöchst anspruchsvolle – und zwar vor allem deshalb, weil diejenigen, die sich wirklich gründlich mit ihr beschäftigt haben, zum Schluss kommen, der Anfang des Seins, das wir als solches überhaupt wahrnehmen und denken können, sei Geist gewesen, und Materie sei daraus wie auskristallisiert. Wer aber zu diesem Schluss kommt, erfährt auf dem mühsamen Weg dahin auch, wie leicht und, viele Teilfragen erledigend, der gegenteilige Schluss sich aufdrängen kann. Diese Erfahrung verhindert es, die Materieanhänger zu verspotten. Diese Zurückhaltung wiederum aber ist entwicklungsgeschichtlich eine Katastrophe, denn die fähigsten Köpfe werden sozusagen von der Teilchenphysik verführt und bilden ihre eigentlichen Talente nicht aus; die wirkliche Entwicklung ist deshalb stehengeblieben. (Dies allerdings tatsächlich bereits seit Plancks Quantenresignation, nur bloss seither durch die Teilchenphysik verhärtet.)
Die Frage des Primats von Materie oder Geist geht in neuerer Zeit auf Kant zurück, der die Ansicht vertrat, dass dem Menschen absolute Grenzen gesetzt sind. Dies heisst, dass der Mensch nur innerhalb der Materie forschen und zu verlässlichen Erkenntnissen kommen könne und alles darüber hinausgehende, insbesondere wenn es sich der binären Logik entzieht, bloss Ansichtssache sei und bleibe. (Kant wusste durchaus, dass seine Sichtweise nicht zutraf. Er hatte Kontakt zu Swedenborg, der ihm aber nicht erklären konnte, wie er zu seinen hellseherischen Fähigkeiten kam. Kant brach deshalb den Kontakt verärgert ab.) Zwar ist dies völliger Unsinn. Aber wie die Erfahrung besonders in den Religionen und der Politik zeigt, muss ein Unsinn nur eine gewisse Grösse und genügend repräsentierende Stimmen haben, um, allenfalls auch nur schulterzuckend, stillschweigend toleriert zu werden. In Bezug auf das Cern heisst dies, dass Europa über Jahrzehnte hin Milliarden dafür ausgibt, um in einer Ecke nach Antworten zu suchen, die dort nicht zu finden sind, und dass dieses Vorgehen gleichzeitig jeden wirklichen Erkenntnisfortschritt verunmöglicht.
Die gesuchte Antwort in der Materie zu finden ist eine methodische Unmöglichkeit. Die mögliche Antwort als solche anzuerkennen hängt von den Fähigkeiten des Forschers ab. Hierbei zeigt es sich, dass dieser nur physisch gegenständliche Dinge als letzte Instanz anerkennen kann; auch eine Datenmenge und einen binärlogischen Schluss daraus wird er nicht abschliessend akzeptieren. Wenn sich in den Tiefen der Materie aber z. B. ein Geruch oder ein Ton zeigen würde, der diese Sache ist, die die Welt im Innersten zusammenhält, würde der Teilchenphysiker das nicht akzeptieren und den Stoff suchen, von dem der Ton oder der Geruch ausgeht. Wenn der Forscher aber dieses stofflich-gegenständliche Ding fände, würde sich sogleich die Frage einstellen, wie verlässlich festgestellt werden könnte, dass dies tatsächlich das gesuchte Ding wäre, und insbesondere, wie dieses Ding entstanden sei. Diese unhaltbare Situation wird sich aber bei jeder Art von materiebedingter Antwort ergeben. Die Frage nach dem Ding fängt also bei einer jeden solchen Antwort gleich wieder von vorne an. Oder anders gesagt, mit der Forschung in der Materie kommt man nicht über die derzeit bestehende Materie hinaus. Man findet die Lösung aus methodischen Gründen nicht.
Als Anhang: Das Primat ist der Geist. Wahrgenommen werden in seiner Ganzheit kann er derzeit nicht. Aber dies stellte schon Fichte fest und sagte deshalb (1810), der Mensch müsse ein völlig neues Wahrnehmungsorgan ausbilden. Rudolf Steiner präzisierte dies und wies 1904/05 mit der Aufsatzsammlung (heute als Buch erhältlich) „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ den Weg, dieses Organ auszubilden. Dazu bräuchte es heute allerdings eine psycho-pneumatische Infrastruktur, die nur generalstabsmässig gezielt in ca. dreissig Jahren herbeizuführen wäre. Dies – und nicht Cern – ist die Aufgabe der Gegenwart.

Entwicklungsgeschichtlich zeigt es sich, dass der Mensch in einer bestimmten Phase – in Mitteleuropa ist dies vornehmlich das 19. und 20. Jahrhundert – die Vorstellung benötigt, eine jede Sache habe einen ganz bestimmten Anfang und ein ebenso ganz bestimmtes Ende. Erst in dieser Phase kann er nämlich die Vorstellung ausbilden, er selber sei eine eigenständige Individualität und nicht bloss ein Teil der Natur in einem ewigen Strom des Werdens und Vergehens. Der vorgestellte eindeutige Anfang und das ebensolche Ende wirken wie feste und verlässliche psychische Bezugspunkte. Bei den Physikern sind diese Bezugspunkte der angeblich die Materie gebildet habende Urknall und der dereinstige angebliche Wärmetod der Erde; beim Normalbürger sind es die Entstehung des Menschen durch die Konzeption und das Ende durch den alles abschliessenden Tod. Im Geldwesen – dem einzigen künstlichen Organismus – ist es die Vorstellung der Kreditgeldschöpfung aus dem Nichts und seiner Vernichtung durch die Tilgung. Bei der Religion ist es der Urbeginn durch den Schöpfergott und das Wirken des Erlösers am Ende aller Tage. Bei der wichtigsten Ersatzreligion, der Sportveranstaltung, ist es der Anpfiff und der unter diesen oder jenen Regeln festgehaltene eindeutige Schluss, das mess- oder zählbare Endergebnis. Tatsächlich wird aus der Bedürftigkeit nach den günstigen Entwicklungsbedingungen zur Bildung der Empfindung der eigenen Individualität verbissen an der Weiterexistenz der genannten Rahmenbedingungsvorstellungen, der bestimmten Anfänge und ebenso bestimmten Enden, festgehalten.
Als Nebenprodukt der Fixierung der Bezugspunkte und dem daraus sich ergebenden weitgehenden Entwicklungsstillstand sowie dem gleichzeitig aber ebenfalls aufkommenden Bedürfnis, etwas von einer anderen, nämlich übersinnlichen „Welt“ zu erfahren, werden – zum Teil lebensgefährliche – Grenzsituationen herbeigeführt, in der Hoffnung, über diese Grenze hinauszusehen. Der vielleicht verbreitetste derartige Versuch ist der Rauschgiftgenuss. Die sich in der Folge bildende Drogensucht ist damit die gesamtgesellschaftliche Folge der Trägheit der fortgeschrittensten Forscher, sich der Frage nach dem Primat von Materie oder Geist gründlich anzunehmen. Geschähe letzteres, würde die Aussicht aufkeimen, dass die Menschheit auf geregelten Wegen echte unverfälschte Einblicke in die entscheidenden Verborgenheiten bekommen kann.
Die noch verbreitet vorhandene psychische Anhänglichkeit an die Fixpunkte-Ideen zeigt sich am ehesten im Widerstand gegen die Idee von Reinkarnation und Karma. Tatsächlich gibt es in der organischen Reihe der Inkarnationen innerhalb des mechanistischen Vorstellungsvermögens des Menschen keinen Anfangspunkt und keinen Endpunkt. Hier zeigt sich aber auch der entscheidende Unterschied zur asiatischen Seelenwanderungsidee. Diese ist ein ewiger Fluss ohne Individualitätsvorstellung, ein gesichtsloses panta rhei. Die Reinkarnationsidee ist jedoch ein „ewiger“ Fluss, in welchen sich der Mensch dann (erst), nachdem er sich stabil zum Individuum entwickelt hat, als eigenständiges, selbstgestaltendes und selbstverantwortliches Individuum empfindet.

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3.2025 Das Scheitern der NZZ an Rudolf Steiner

In der Sonntagsausgabe der NZZ vom 2. März 2025 ist ein längerer Artikel des Germanisten und NZZ-Redaktors Martin Helg zum 100. Todestag von Rudolf Steiner abgedruckt. (www.nzz.ch/nzz-am-sonntag-magazin/genie-oder-scharlatan-ld.1872941) Der reisserische Titel lautet „Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner. War er ein Genie oder ein Scharlatan?“ Man sieht damit sogleich, was in etwa zu erwarten ist. Steiner war weder das eine noch das andere, sondern ein sogenannt Eingeweihter. Dies ist eine grosse Stufe mehr als nur ein Genie, denn letzteres weiss nicht, warum es Talente besitzt, ersterer jedoch schon. Es ist nicht die Sache entscheidend, sondern das Wissen um deren Ursachen.
Der Artikel ist zwar nicht ganz so negativ wie man es unter Anthroposophen gewohnt ist, befürchten zu müssen – aber gut ist er nicht. Einerseits enthält er zu viele kleine Fehler, und andererseits kommt in keiner Weise zum Ausdruck, warum Steiner die Anthroposophie Geisteswissenschaft nannte. Wohl deshalb wird auch Steiners Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“ nicht einmal genannt; es wird einzig das Büchlein „Nebenübungen“ erwähnt. Durch dieses jedoch wird niemand zum Anthroposophen. Der Artikel weckt zudem in keiner Weise das Interesse des Lesers, sich selber mit Rudolf Steiner zu beschäftigen, er ist einfach bloss Unterhaltung, die man getrost überspringen kann. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass sich der Autor von „Anthroposophen“ in Dornach beraten lies und sich nicht anhand eines Grundwerkes oder wenigstens Steiners Selbstbiographie „Mein Lebensgang“ einen Eindruck verschaffte. Aber die Dornacher vertreten eben die Praxisfelder - und nicht die Wissenschaft.

Unter den verschiedenen Abbildungen befindet sich auch eine Ansicht vom Dorf Horn. Der fette Untertitel dazu lautet: „Im Dorf Horn in der heutigen Gemeinde Neusiedl an der Zaya (Niederösterreich) hat Rudolf Steiner seine frühe Kindheit verbracht.“ Hier ist allerdings ein bisschen zu viel durcheinandergeraten. Denn weder Horn noch Neusiedl (im Waldviertel an der Kemptalbahn) sind die richtigen Orte, sondern es handelt sich um Neudörfl an der Südbahnim Burgenland. Dann wird unter früher Kindheit das 4. bis 6. Altersjahr verstanden – die Familie zog jedoch erst 1869 nach Neudörfl, d. h. Steiner war also bereit acht Jahre alt. Weiter steht im Text, dass sein Vater Bahnwärter (also Barrierenwärter) gewesen sei. Tatsächlich war er zuerst Bahntelegraphist und dann Bahnhofsvorstand.
Vom ersten Goetheanum sind zwei Abbildungen vorhanden, einmal im Bau und einmal als Brandruine. Dass es der weltweit erste stützenlose Doppelkuppelbau war, der von sämtlichen Fachleutenbis anhin als unmöglich zu bauen erachtet wurde und von Steiner, der Naturwissenschaft studierte, selber berechnet worden war, fehlt leider.
Weiter steht da „Er praktizierte Geisterbeschwörungen.“ Was der Leser nicht erfährt ist, was darunter zu verstehen ist, d. h. es fehlen alle Informationen dazu, wie bei Steiner eine „Geisterbeschwörung“ vor sich gegangen sein soll.
Der Autor glaubt zudem: „So vollzog sich Steiners Metamorphose vom rastlosen Sucher zum Propheten.“ Dies war um die Jahrhundertwende. Aber Steiner suchte damals in keiner Weise, denn bereits Ende 1893 erschien sein Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“; damit hatte er etwas „gefunden“, was noch heute derart fremd ist, dass man diesen Fund kaum als solchen erkennt. Was Steiner tatsächlich suchte, war einzig das fähige Publikum.
Einige wenige der vielen weiteren schmählichen Floskeln sind die folgenden:
„…verbuche Steiners Deutschnationalismus, Rassismus und Antisemitismus unter ‚zeittypische ideologische Fehlleistungen‘ …“ Es ist tatsächlich eine zeittypische ideologische und zudem moralisierende ehlleistung, jemandem eine Fehlleistung zu unterstellen, ohne die Fakten zu kennen. Der angebliche Deutschnationalismus löst sich nicht nur in Nichts auf, wenn man z.B. Jörn Leonhards „Der überforderte Frieden“ liest oder Markus Osterrieders „Welt im Umbruch“. Es stellt sich dann vielmehr die Ahnung ein, dass es beim 1. Weltkrieg darum ging, einen bestimmte Kulturimpuls, nämlich den deutschen, zu zerstören – und dass dies gelang und der weltweite Materialismus weitgehend deshalb bis heute nicht überwunden werden konnte. Zudem: Der mit Steiner sehr vertraute französische Schriftsteller Edouard Schuré bezichtigte Steiner während des Krieges in ganz unintelligenter Weise des Deutschnationalismus’ – und reiste nach dem Krieg (und nach dem Versailler Vertrag) sowie um einige Einsichten reicher nach Dornach, um sich zu entschuldigen. Die beiden anderen beliebten Vorwurfs-Schlagwörter können ebenfalls entsorgt werden. Allerdings ist hier nicht der Platz, um allein einerseits deren heutige unwissenschaftliche Bedeutung herauszuschälen und sie andererseits den anthropo l o g ischen resp. den menschheitsentwicklungspezifischen Gegebenheiten gegenüberzustellen und so deren Bedeutungen in genügendem Umfang darzulegen.
„…aber anders als etwa die katholische oder die psychoanalytische Lehre hat sich seine Anthroposophie kaum weiterentwickelt ...“ Tatsächlich verhält es sich exakt anders herum: Der moderne Mensch hat sich nicht weiterentwickelt. Deshalb ist er noch nicht fähig, zu erkennen, was moderne Geisteswissenschaft überhaupt ist. (Er erträgt deshalb auch die anthropozentrische Vorstellung noch fast gar nicht, d. h. dass der Mensch die Hauptsache ist und nicht die Gegebenheit Natur/Gott.)
„.. inspiriert von Christentum, östlicher Weisheit, deutschem Idealismus und antimodernistischen Grillen …“ Die neumodernistischen Grillen erlauben es offenbar, eine Sache zu beurteilen, ohne davon etwas zu verstehen. Aus östlicher Weisheit, die eine bestimmte Entwicklungsstufe des Menschen voraussetzt, wird sich nie eine moderne Geisteswissenschaft entwickeln, die eine 3000 Jahre später erst möglich gewordene und sich jetzt erst im Anfangsstadium befindende Entwicklungsstufe voraussetzt.
„Das hatte er von seinem Fixstern Goethe, dem er nicht nur das Goetheanum widmete.“ Goethe war keineswegs der Fixstern. Er war jedoch deshalb erwähnenswert, weil er der erste war, der (mit der Urpflanze) versuchte, das Phänomen Organismus zu erkunden und mit zutreffenden Begriffen zu versehen. Dies gelang ihm zwar im Sinne der heutigen Wissenschaft nicht. Um die spezielle Art der erlangten Erkenntnis der Gesetzmässigkeiten eines Organismus zu vermitteln, verfasste er spezifische Sprüche, die beim Leser zu einer solchen gleichen Empfindung führen können. Vor Steiner war dies der einzige mögliche Anfang zur Erkundung der noch heute der Wissenschaft völlig verschlossenen Gesetze organischer Gegebenheiten. Es gäbe fraglos auch ohne Goethe einen Steiner.
Weiter meint der Autor, dass „Wenn Steiner etwas wirklich hinterlassen hat, dann seine Pädagogik.“ Erneut führt diese oberflächliche Sicht und Reduktion einer Wissenschaft auf eine blosse Anwendung derselben dazu, aktuelle Probleme der heutigen Steinerschulen zunehmend als Beleg für die Bedeutungslosigkeit Rudolf Steiners zu werten.
Im Abschnitt über die anthroposophische Medizin heisst es: „Ich erinnere mich an Wallwurzwickel in der Kindheit, an Lavendelöl und Zwiebelwatte, an den Duft der Provence und wärmende Ströme in den Gliedern.“ Dies ist nun allerdings nicht anthroposophische Medizin, sondern Naturheilmedizin. Originär von Steiner stammen hingegen neben den verschiedenen Mistelpräparaten besonders die homöopathischen Composita und die Organpräparate; diese werden jedoch gar nicht erst erwähnt. Der Autor beschreibt auch kurz die biologisch-dynamische Landbauweise – und dass sie Zuspruch erfährt. Kann sich hier überhaupt die Frage ergeben, „War er ein Prophet, ein Scharlatan, ein Universalgenie […]?“
In dem gut viereinhalbtausend Wörter umfassenden Bericht kommt die Hauptsache gerade in einem einzigen Satz und ohne jeglichen Inhalt vor. Er lautet: „Zum Wunsch nach Selbstoptimierung liefern Karma und Reinkarnation den idealen Überbau, verkünden sie doch: Langfristig ist kein Streben vergeblich!“ In dieser Weise wird Reinkarnation und Karma und damit das zentrale Thema der Anthroposophie (siehe z.B. GA 135) grosszügig umgangen und damit auch gleich die Tatsache, dass es gerade Rudolf Steiner war – um den es eigentlich in diesem Aufsatz geht –, der im Abendland massgebend darauf hingewirkt hat, sich dieses naturgegebene Thema zu vergegenwärtigen und die vermittelten Gesetzmässigkeiten zu hören. Demgegenüber gibt es seitens der vermeintlich so grossartigen modernen Wissenschaft – gleich welcher Ausrichtung – nicht die geringste Vorstellung oder sogar ausgedehnte Hypothesenbildung bezüglich der Frage, wie oder wodurch das Schicksal des Menschen entsteht, woher seine Talente stammen, woher Sympathie und Antipathie, Neigungen, Interessen, Vorleiben und dergleichen– oder gelegentlich die weitgehende Abwesenheit derselben. (Der ab und zu noch herumirrende Verweis auf die Vererbung ja sich ja wohl inzwischen von selbst erledigt.) Es ist zu bedenken, dass im Zuge des Schwindens der Gottesvorstellung die Vergegenwärtigung des Phänomens von Reinkarnation und Karma die konstituierende Grösse zukünftiger Gesellschaftsbildung sein wird, resp. werden muss, wenn nicht völlige Orientierungslosigkeit und in der Folge faustrechtliches Chaos ausbrechen sollen. Der Autor des Berichts steht dieser zentralen Angelegenheit gegenüber wie ein Konzertkritiker, der nicht verstanden hat, dass die Abfolge der Töne und deren Zusammenklingen nicht durch den Bau der Instrumente, sondern durch menschlichen Willen gegeben ist. Die „NZZ am Sonntag“ erscheint in über 110‘000 Exemplaren und hat (gemäss WEMF) ca. 400‘000 Leser.
Die NZZ ist nicht eine beliebige Provinzpostille; sie wird vielmehr in allen deutschsprachigen Redaktionsstuben gelesen und kann dort gelegentlich zu Weichenstellungen führen. Der Umstand, dass der Autor mit diesem Artikel bezüglich der bedeutendsten Kulturerscheinung der neueren Zeit die Leser in gewisser Weise leichtfertig belogen und eine bedeutende aufbauende Möglichkeit vertan hat, müsste ihn zumindest nachdenklich machen bezüglich der daraus entstehenden ungünstigen Karmabildung für seine nächste Inkarnation.

Der Artikel ist geprägt von Vorurteilen, die der Autor unbedacht übernommen hat. Sie könnten sehr gut z. B. auf die teilweise unsägliche Steiner-Biographie von Miriam Gebhardt zurückgehen; des Autors Floskeln und gänzlich unbedachten (Vor)Urteile sind deren Inhalt überaus ähnlich. Gebhardt hat u.a. ein Unterkapitel von zwanzig Seiten mit dem Titel „Das Kind seiner Zeit“ verfasst – damit ist Steiner gemeint – und führt hier z.B. auf, dass Steiners „Sicht“ nicht mit der 50 Jahre später aktuellen Entwicklungspsychologie übereinstimmt, also zeitbedingt gewesen sei, gerade wie wenn die anerkannte Entwicklungspsychologie die reine Wahrheit wäre, die der arme Steiner einfach als Kind seiner Zeit noch nicht erkennen konnte.

In gewisser Weise muss man allerdings generell einem Journalisten zugute halten, dass es für ihn eigentlich unmöglich ist, einen wirklich sachgemässen Artikel zu Rudolf Steiner und damit zur modernen Geisteswissenschaft zu schreiben. Diese Wissenschaft handelt zu grossen Teilen von den Gesetzmässigkeiten von Organismen (was der Wortverwendung nach nicht sogleich ersichtlich ist), und diese sind per se aussersinnlicher Art, das heisst auch, binärlogisch nicht zu erfassen – und eine real mehrwertige Logik verschliesst sich dem gegenwärtigen menschlichen Vorstellungsvermögen noch. Immerhin zeigt die Erfahrung ja auch, dass von denjenigen, die sich getrauen, sich der Anthroposophie ein wenig zu nähern und einmal versuchen, ein Buch von Steiner zu lesen, neunundneunzig Prozent scheitern. Sie lassen es alsbald wieder sein und finden sich bestenfalls in einem anthroposophischen Anwendungsfeld wieder.

… und das Scheitern der Anthroposophen an der NZZ
Anhand des NZZ-Artikels muss man leider auch feststellen, dass es den vom Artikelschreiber befragten Anthroposophen, den namentlich genannten Gewährsleuten in Dornach (daneben einer Ärztin, zweier Lehrerinnen und einem Geschäftsleitungsmitglied einer anthrop. Bank), nicht gelang zu vermitteln, was Anthroposophie ist und wodurch diese Geisteswissenschaft Wissenschaft ist. Im Übrigen ging es ja eigentlich um Rudolf Steiner und um dessen 100. Todestag und nicht um Anthroposophie. Was der von Berufs wegen naive Autor kaum wissen kann: es gibt zwei anthroposophische Strömungen, und in Dornach ist diese vertreten, die „tätig lebt“ und Selbstoptimierung sucht; ihre Vertreter werden gelegentlich auch Platoniker genannt. Dagegen gibt es die geografisch und auch sonst kaum zu findendenAnthroposophen, die weitab von Anwendungen vorerst einmal die Wissenschaft in der Anthroposophie, genannt Geisteswissenschaft, zu verstehen und zu vertreten versuchen, gelegentlich auch Aristoteliker geheissen. Letztere hätten dem Autor zuerst einmal einige Fragen gestellt bezüglich seiner eigenen Vorstellung der Komplexität von Mensch und Welt und dem diesbezüglichen Primat, damit er in der Folge des Versuchs der Beantwortung beginne zu ahnen, in welchem Bereich des Gegebenen überhaupt und in welcher Art sachdienliche Fragen möglich sind. (Eine zutreffende Antwort ist nur dann möglich, wenn sich der Fragendeder Sache soweit angenähert hat, dass er fast selber die Antwort findet. Dieses Faktum zwang Steiner, vorerst einmal in einer Art zu reden, dass der Hörer das Gehörte nicht sogleich unbewusst automatisch in seine bestehende, nun eben zu überwindende Weltanschauung eingliederte.) Der Fragende hätte dann verstanden, dass er die tatsächlich sachgerechten Antworten vorerst so wenig verstehen kann wie ein Säugling die Poincaré-Vermutung lösen könnte.
Der letzte Satz des NZZaS-Artikels heisst: „Wer sich ein Urteil über Steiner bilden will, muss sich entscheiden: Will er ein Wunder sehen oder einen Scharlatan entlarven? Beides ist möglich.“ Tatsächlich ist es genau anders herum: Wer sich ein Urteil über Steiner erlaubt, entlarvt sich als Scharlatan – als Scharlatan, da er die vorausgesetzte Fähigkeit des Urteilens schlicht nicht aufweist.
Hätte der Autor, wie oben vermerkt, sich selber zuerst gewisse Fragen gestellt, hätte der letzte Satz dann vermutlich und vor allem zutreffender gelautet: „Rudolf Steiners Geisteswissenschaft verlangt weit mehr an Denkvermögen als heute zu finden ist, unter anderem weit mehr als nur binäre Logik, die heilige Kuh der gegenwärtigen Wissenschaft.“

Der Artikel ist schlichtweg schlecht. Er zeigt aber auch, dass die Vertreter der Anthroposophie die Anthroposophie (noch) nicht zu vertreten fähig sind.
Der NZZ-Artikel hätte ganz anders werden können, wenn der Autor das soeben erschienene, differenzierte und sachgerechtere Buch „Das Rätsel Rudolf Steiner. Irritation und Inspiration“ von Wolfgang Müller als Inspiration herbeigezogen hätte.
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3.2025 Zum hundertsten Todestag Rudolf Steiners

Rudolf Steiner starb am 30. März 1925. Sein Todestag ist Anlass zur Rückschau auf das Wirken seiner unzähligen Schriften, das Wirken der anthroposophischen Gesellschaft und der Anthroposophenschaft. In diesen hundert Jahren entstanden aus der Anthroposophie hervorgehende Volksschulen – die Steinerschulen oder Waldorfschulen –, eine anthroposophisch orientierte Ärzteschaft, eine biologisch-dynamische Landwirtschaft sowie künstlerische Impulse. Aber eine Wirkung zeigende Geisteswissenschaft ist bisher daraus nicht entstanden. Vielmehr ist es sogar so, dass Steinerschulen zunehmend unter ideeller Auszehrung leiden und einige anthroposophische Ärzte zwar anthroposophische Arzneimittel verwenden, aber, wie auch zunehmend Steinerschullehrer, das anthroposophische Menschenbild nur bedingt beherrschen.
Eine anthroposophische Geisteswissenschaft müsste heute in der Gesellschaft diskursleitend sein. Jedoch hat sich nicht einmal das Wissen um die Naturtatsache von Reinkarnation und Karma nachhaltig verbreitet, geschweige denn Gewicht erhalten bezüglich des Tuns und Lassens. Daher stellt sich die Frage – und dies müsste inneranthroposophisch ausführlich thematisiert werden –, was falsch gemacht wurde oder welche Hindernisse nicht beachtet wurden und werden. Die Tatsache, dass niemand zu brauchbarer Hellsichtigkeit und erst recht nicht zu einer Einweihung gekommen ist (was gelegentlich sogar bezweifelt wird), zeigt deutlich, dass derzeit diese Geisteswissenschaft keine ist. Steiner selber beschrieb viele mögliche Hindernisse, die eine heutige Entwicklung erschweren oder verhindern. Das grösste innere Hindernis ist vornehmlich die unklare Haltung des anthroposophischen Individuums zur Anthroposophie – nämlich, dass sie, in Verkennung ihrer menschheitsgeschichtlichen Bedeutung, bloss eines unter vielen verschiedenen Interessensgebieten sei. An erster Stelle jedoch steht vermutlich die allgemeine Willensschwäche. Hinzu kommen äussere Einflüsse, vielleicht erstere bestimmend. Die äusseren Einflüsse sind vornehmlich die materialistische Bildung, ungeeignete Medikamente, ungeeignete Ernährung, das weltumspannende elektromagnetische Netz, eine anachronistische Wirtschaftsordnung und eine im Mathematikmodus verhaftete Naturwissenschaft. Dies aber sind, mit anderen Worten, die Themen, welcher sich der moderne (anthroposophische) Mensch annehmen muss. Eine alltagspraktische Frage ist z. B., wie sich elektrischer Strom günstig, kleinräumig und sicher speichern lässt. Da Elektrizität ihrem Wesen nach organischer Art ist – der induktive Strom lässt sich nur so erklären –, muss, um zu Lösungen zu kommen, die Fähigkeit vorhanden sein, organische Gesetzmässigkeiten unmittelbar zu erkennen. Die organischen Gesetzmässigkeiten sind übersinnlicher Art. Dies aber ist eine anthroposophische Angelegenheit. Darüber hinaus: wenn zehntausende Menschen immerwieder ein bestimmtes Problem – hier also z.B. die Stromspeicherung – vor immer klarer sehenden Augen haben, bildet sich ein Gedankenraum, der dazu führen kann, dass einem allenfalls von aussen dazustossenden hochtalentierten Individuum die Lösung unvermittelt vor Augen tritt. Dies wäre praktisch wirksame Geisteswissenschaft; sie soll ja immerhin konkrete Lösungen herbeiführen. Und diese Geisteswissenschaft existiert derzeit nicht.